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Systemische Weiterbildung
in Karlsruhe

Das Ausgeschlossene wird durch den Ausschluss eingeschlossen (Niklas Luhmann)

Wechselspiele

1984! Unweigerlich denken wir an George Orwell: „Big Brother is watching you“. Wer sich in der systemtheoretischen Welt auskennt, verbindet mit dem Datum 1984 den Beginn einer systemtheoretischen Wende. Niklas Luhmann veröffentlichte sein Buch „Soziale Systeme“. Großen Stellenwert hat bei Luhmann die Kommunikation. Luhmanns Vorstellungen von Kommunikation passen ganz und gar nicht zum 1. Axiom Paul Watzlawicks: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Wenn man Luhmanns Ideen folgt, kommt man zum Schluss: „Man kann nicht kommunizieren“.

Die Frage „Wer hat recht, Luhmann oder Watzlawick?“ hat mich vor Jahren auf die Idee gebracht, mir die „Wahrheit“ über eine Art Wechselspiel zu erschließen. Wenn ihr Lust habt, dieser Idee zu folgen:

Zum Wechselspiel: Im Sinne Luhmanns kann man deshalb nicht kommunizieren, weil nicht Menschen kommunizieren. Kommunikation kommuniziert. Es erübrigt sich die Frage, ob Menschen können oder nicht oder nicht nicht. Die Theorie dahinter ist kompliziert und nicht leicht in Worte zu fassen. Wer Lust hat, sich damit zu beschäftigen, kann eine leicht verständliche Einführung lesen: „Luhmann leicht gemacht“ von Margot Berghaus.

Für unser Thema reicht es festzuhalten, dass sich die Theorien Watzlawicks und Luhmanns widersprechen. Dabei wurden beide Theorien von konstruktivistisch denkenden Systemikern entwickelt.

Wer hat nun wirklich recht? Es kann ja nicht zwei Wirklichkeiten geben. Doch, es gibt zwei Wirklichkeiten. Ergo: Beide haben recht.

Zu dieser Erkenntnis kommt man, wenn man sich den Ideen wechselnd zuwendet. Während man die Theorie Watzlawicks „untersucht“, blendet man die Theorie Luhmanns aus. Wenn man zur Theorie Luhmanns wechselt, blendet man die Theorie Watzlawicks aus. Durch das Oszillieren entsteht ein virtueller Raum, dessen „Wirklichkeit“ durch beide Seiten angeregt wird. Allmählich entwickeln sich Überschneidungen. Dabei entsteht dieser Raum nicht direkt aus den Positionen Luhmann oder Watzlawick, sondern aus sich selbst heraus. Der Mathematiker George Spencer Brown nennt diesen Vorgang „Re-entry“.

Beispiel aus der Praxis zum Thema „Paarberatung“. Sie sagt: „Mein Mann ist ein arroganter Sack, er nimmt mich nicht ernst.“ Er sagt: „Meine Frau ist eine Heulsuse, die alles auf sich bezieht“.

Wer hat recht? Beide. Wenden wir uns ihr und ihren Schilderungen zu, ist er ein arroganter Sack. Wenden wir uns ihm und seinen Schilderungen zu, ist sie eine Heulsuse. Durch das Oszillieren entwickelt sich relativ schnell ein Gefühl von Allparteilichkeit.

Natürlich können wir rational an die Sache herangehen: Die Wirklichkeit liegt im Auge der Betrachterin. Dann hypothetisieren wir ein Beziehungsmuster: It takes two to tango.

Das Oszillieren (sie – er – sie – er – sie …) ist ein kreativer Prozess. Es entwickelt sich wie von selbst ein virtueller (Erlebnis-)Raum. Wir denken nicht allein auf der Metaebene, wir (er-)leben die Metaebene. Wenn es uns dann erfolgreich gelingt, die Streitenden in diesen Raum einzuladen, entwickeln beide ein Verständnis für das Erleben der jeweils anderen Partei.


Zunächst ein bisschen Theorie zum Kontext Luhmann/Watzlawick: Für Luhmann ist die Unterscheidung zwischen System und Umwelt von zentraler Bedeutung. Soziale Systeme (die sich von ihrer Umwelt abgrenzen) bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Salopp: Der Mensch ist draußen. Allerdings: Ein bisschen menschelt es auch bei Luhmann. Alter und Ego treten in Erscheinung. Sie stehen als soziale Positionen einer Person während der Kommunikation

Im Gegensatz zu Luhmann deutet Watzlawick (man kann nicht nicht kommunizieren) Kommunikation als Verhalten oder Handeln. „Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter“ (Menschliche Kommunikation, 1990, S. 51). Ergo: Wenn ich „Hallo“ sage, will ich etwas mitteilen. Logisch. Wenn ich schweige, will ich im Sinne Watzlawicks auch etwas mitteilen. Was immer ich tue, ich teile grundsätzlich etwas mit. Ich kann nicht anders. Und andere, wenn sie im Raum sind, reagieren, indem sie den, der schweigt, in Ruhe lassen. Also findet nach dieser Logik Kommunikation statt.

Das Modell Watzlawick „funktioniert“ nur, wenn wir die Hypothese Watzlawicks (Handeln hat grundsätzlich Mitteilungscharakter) akzeptieren. Das Modell Luhmanns funktioniert nur, wenn wir die Hypothese Luhmanns (nicht Menschen, sondern Kommunikationen kommunizieren) akzeptieren.

Wir haben also keine Informationen über die wirkliche Beschaffenheit von Kommunikation. Wir wissen nur, was die Autoren mit ihren Modellen erklären wollen.

Wie wir oben gesehen haben, müssen wir uns nicht für eine der beiden Positionen final entscheiden (wenn wir nur diese berücksichtigen wollten, es gibt weitere). Durch die Bewegung zwischen den Positionen erreichen wir eine Metaposition, die uns von Festlegungen befreit, die Positionen verflüssigen sich. Es entsteht ein neuer Raum.

Bei dieser Idee können wir auf einen berühmten Vordenker zurückgreifen. Anfang des 19. Jahrhunderts sprach Georg Wilhelm Friedrich Hegel in diesem Zusammenhang vom „Rhythmus der Erkenntnis“. Erkenntnis besteht nicht aus „objektiven Fakten“, sondern sie entsteht durch die Bewegung des Denkens. Wenn man Gedanken hin- und herbewegt, werden „feste“ Gedanken gleichsam flüssig und entwickeln sich zu ihrer eigenen Negation. Den negativen, gegensatzproduzierenden Aspekt dieses Vorgangs nannte Hegel das „Entgegengesetzte in seiner Einheit“. Es überwindet die Gegensätze und hebt sie auf. Auf diese Weise kommt man zu einem höheren Verständnis. Hegel nannte diesen Vorgang „Dialektische Bewegung“.

Was bedeutet das für die mich? Festgefahrene Positionen, obsessive Gedanken, unverrückbare Einstellungen lassen sich mit der „Methode“ des Oszillierens verflüssigen. Bin ich von meiner Meinung felsenfest überzeugt? Ärgert es mich, wenn andere anderer Meinung sind oder einer anderen Weltanschauung folgen? Statt die Meinung anderer unreflektiert zu „bekämpfen“, könnte die Bewegung zwischen den Meinungen zur Versöhnung und zu neuen Erkenntnissen führen. Ich kann meine Sicht öffnen für das bisher Ausgeschlossene und mich befreien von Intoleranz.

Dilemmata (ich muss mich entscheiden) lassen sich durch das Oszillieren auflösen. Durch das Wechseln von einer Position zur anderen und wieder zurück (A-B-A-B…) entsteht eine Bewegung, die die Entscheidung erleichtert.

In der therapeutischen Arbeit bewegen wir uns zwischen Problemtalk und Solutiontalk, zwischen Objekt- und Metaebene, zwischen Prozess- und Expertenberatung usw.

© Dieter Salomon, 06.09.2025

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